Doch keine Frühgeburt

Linda* und Pancho* sind eigentlich davon ausgegangen, dass ihr Kind frühestens in 5 Wochen zur Welt kommen wird. Das englisch-mexikanische Paar ist erst vor kurzem von London nach San Cristóbal gezogen. Doch plötzlich gehen die Wehen los und ein regelrechter Spiessrutenlauf durch die Stadt beginnt…


Sie hatten sich hier eine Hebamme gesucht, da für sie das Krankenhaus als Geburtsort nicht in Frage kam. Mit dieser Hebamme gab es jedoch irgendwelche Unstimmigkeiten und so suchte Pancho – seine Frau in den Wehen – eine andere Lösung. Über Umwege fand er eine Französin, die in Mexiko eine naturheilkundliche Hebammenausbildung absolviert hat. Gemeinsam gingen sie zu einem Arzt um einen Ultraschall zu machen. Dieser meinte, dass es sich wohl nicht um eine Frühgeburt handle und die Schwangerschaft sicher weiter fortgeschritten sei als 35 Wochen wie angenommen. Für eine Hausgeburt schätzte die französische Hebamme die Situation jedoch zu riskant ein. Sie versuchte ihr Glück bei den Geburtshäusern in der Stadt und wurde im Hogar Yach’il Antzetic fündig. Die Hebammen des Hogars erklärten sich bereit, das Paar aufzunehmen und die Geburt zu begleiten. Kurzerhand wurden alle Hebammen – so auch ich – zusammengetrommelt. So bin ich bereits am dritten Tag in Mexiko zu meiner ersten Geburt gerufen worden.

Linda und Pancho waren froh, sich nun der Geburtsarbeit widmen zu können und nicht mehr wie die schwangere Maria von einem Ort zum nächsten geschickt zu werden. Die Geburt schritt nur langsam voran und Linda war bereits sehr erschöpft. Zwischendurch liessen die Wehen nach und so konnte sie ein bisschen dösen und Kräfte sammeln. Mitten in der Nacht kam das kleine Mädchen dann zur Welt. Auf den ersten Blick war klar, dass es sich tatsächlich um ein kräftiges Mädchen handelt und die vermeintliche Frühgeburt keine war. Nach dieser langen Geburt war es wenig verwunderlich, dass die erschöpfte Gebärmuttermuskulatur sich nicht genug kontrahierte und Linda viel Blut verlor. Dank Notfallmedikamenten und anderen Massnahmen versiegte der Blutfluss endlich und wir drei Hebammen konnten aufatmen und den Schutzengeln danken. Und Linda und Pancho konnten ihre Tochter gebührend in dieser Welt begrüssen. Nach ausgiebigem Stillen schliefen Mutter, Tochter und Vater zufrieden in ihrem Geburtszimmer ein. Die französische Hebamme machte sich auf den Heimweg, denn sie hatte schon lange kein Auge mehr zugetan. Mary, die mexikanische Hebamme, und ich ruhten uns im Vorraum zum Geburtszimmer aus und schauten immer wieder nach der Wöchnerin und ihrem Kind.

Nach einem nahrhaften Frühstück für uns alle am nächsten Morgen: Bohnen, Kartoffeln, Tortillas, Gemüse und Tee fühlte sich Linda bereits viel besser und konnte im Verlaufe des Vormittags aufstehen und duschen. Angesichts ihres Blutverlustes erstaunte mich dies. Ob ihre rasche Regeneration dem „Powerdrink“ zu verdanken war, den wir ihr nach der Geburt zu trinken gaben? Ein frisch gemixter jugo (Saft) aus Früchten, viel Honig und Stückchen aus ihrer Placenta. ¿Quién sabe? – wer weiss?

So vieles an einer Geburt wohl überall auf der Welt ähnlich abläuft, so vieles war doch ganz anders. So wurde Linda zum Beispiel nur zweimal untersucht um nachzusehen wie weit sich ihr Muttermund bereits geöffnet hatte. Und auch die Herztöne des Kindes wurden nur sehr selten abgehört – meist war ich es, die langsam nervös wurde und zum Dopton griff um sie zu überprüfen. Dafür waren Linda und Pancho keine Minute lang alleine und wurden stets liebevoll und engagiert begleitet. Trotz der langen und erschöpfenden Geburt kam nicht ein einziges Mal ein „ich kann nicht mehr“ aus Lindas Mund. Für sie war offenbar klar, dass wir ihr nichts von der Geburtsarbeit abnehmen können und sie alleine das Kind auf die Welt bringen muss.

Die beiden Kinder meiner Hebammenkollegin Mary waren während der ganzen Geburt im Geburtshaus anwesend. Die 5-jährige Iromi kam immer mal wieder ins Geburtszimmer und streichelte die Gebärende, wenn diese eine Wehe veratmete. Sie ist selbst schon eine kleine Hebamme und weiss sehr gut wie eine Geburt abläuft. Am nächsten Morgen war sie etwas enttäuscht, dass sie die Geburt dann doch verschlafen hat.

Was wohl die Geburtshilfe im Yach’il Antzetic auch gut veranschaulicht ist der gähnend leere Medikamentenkühlschrank im Vergleich zu den über- und übervollen Schubladen und Schränkchen mit Homöopathie, unzähligen Kräutern und Bachblüten.

* Namen geändert

5 Gedanken zu „Doch keine Frühgeburt“

  1. Wie unterschiedlich Geburtshilfe doch sein kann, obwohl es doch immer um die Geburt eines Kindes geht… Spannend.
    Mehr davon bitte! Freue mich schon 🙂 Umarmung, C.

  2. Liebe Julia
    Der Beitrag zu deiner ersten Geburt ist spannend und hat mich sehr berührt.
    Freu mich auf den nächsten….
    Machs gut.

  3. Wow, Julia, dankedanke für deine tollen Berichte!! Natürlich berührt und interessiert auch mich vor allem der Bericht von deiner ersten Geburt sehr!… Fantastisch, auf diese Art ein wenig in andere Geburtskulturen reinzuspüren… Wenigstens aus der Ferne!… Vielen Dank, dass ich daran teilnehmen darf!
    Freue mich auf weitere Zeilen von dir! Ganz liebe Grüsse, Andrea

  4. Liebe Julia, wie gut, dass Du jetzt da bist im Yachíl !!! Ich freu mich so; für Dich und für alle im Hogar und die Frauen denen Du begegnen wirst!
    Ich war sofort wieder “da”… und ich kriegte “Heimweh”…
    Ich bin gespannt auf alles weitere!!!!
    Un abrazo fuerte!!!
    Christiane

  5. Liebe Julia, vielen Dank für diesen interessanten Bericht über dieses Geburtshaus und Deine Arbeit. Ich bewundere Euch, vorallem Dich! Sicher wirst Du dort enorm viel lernen und helfen können. Ich freue mich auf mehr Berichte von Euch. Dädi hat es mir zugeschickt. Ganz liebe Grüsse aus Weggis, Jolanda und Familie

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