Chiapas ist weitläufig mit seinen unzähligen Hügeln. Sehr grün, aber gleichzeitig auch ziemlich zersiedelt. Was, wenn die nächste Ärztin nicht gleich um die Ecke wohnt und kein Spital in der Nähe ist? Und was, wenn Wissen eher schwer zugänglich ist und nicht wie bei uns auf dem Silbertablett serviert wird? Ein zweitägiger Kurs in einem Dorf in Chiapas führte mir diese Situation vor Augen.
Förderer der Gesundheit
Im ländlichen Chiapas hat die Bevölkerung vielerorts keinen guten Zugang zu medizinischer Versorgung oder muss dafür weite Wege in Kauf nehmen. Ihre Selbsthilfe sieht folgendermassen aus: In den meisten Dörfern gibt es sogenannte „promotores de salud“ (wörtlich: Förderer der Gesundheit). Sie sind eine Mischung zwischen Gemeindesozialarbeitenden und Dorfdoktoren. Sich das nötige Wissen zu erschliessen, ist nicht immer ganz einfach für sie. Deshalb lernen sie das, was ihnen gerade angeboten wird. Kommt ein Zahnarzt vorbei, lernen sie Zahnmedizin. Kommt eine Physiotherapeutin vorbei, lassen sie sich von dieser weiterbilden. Die meisten von ihnen wissen viel über lokale Heilkräuter und ihre Sicht auf die Menschen ist sehr ganzheitlich.
Das Hebammenwesen funktioniert ähnlich. Hebamme ist kein offizieller Beruf mit entsprechender Ausbildung. Gemäss Tradition kann die Hebammerei nicht erlernt werden sondern ist eine Art Bestimmung oder Begabung – ein „don“. Diese Begabung wird oft von Generation zu Generation weitergegeben, sowohl Frauen wie auch Männer sind hier Hebammen. Dies alles heisst aber nicht, dass sich traditionelle Hebammen nicht weiterbilden würden. Ähnlich wie die „promotores de salud“ zapfen auch sie die ihnen zur Verfügung stehenden Wissensquellen an, um zu lernen.
Autonome Klinik
Ein visionäres Ehepaar, er „promotor de salud“ und sie Hebamme, haben in der Nähe von San Cristóbal eine autonome Klinik aufgebaut. Autonom bedeutet, dass diese Klinik unabhängig von der mexikanischen Regierung existiert und ihre Betreiber die Regierung auch nicht als solche anerkennen. Vielmehr leben sie ihre eigene Realität. Sie lehnen alles Staatliche ab – auch finanzielle Unterstützung. Dass das Ehepaar seine Kinder in eine öffentliche Schule schickt, ist ein grosser Kompromiss ihrerseits. Nebst den beiden arbeiten auch noch zwei Brüder des Leiters in dieser Klinik.
Dieses vielfältige Team bietet allgemeine Sprechstunden, psychologische Beratung, Schwangerschaftskontrollen, Geburtsbegleitung und zahnmedizinische Behandlungen an. Da im Laufe der Jahre zwei Zahnärzte dort Halt gemacht haben und ihr Wissen weitergaben, verfügen sie über eine beeindruckend ausgerüstete Zahnklinik.
Ausbildung
In eben dieser Klinik finden monatliche Weiterbildungen für „promotores de salud“ und Hebammen statt. Die Themen sind vielfältig – wie wohl die Probleme, denen diese „promotores“ in ihrem Alltag begegnen.
Nach Möglichkeit laden sie für diese Tage externe Personen ein, um einen Workshop zu geben. So wurde ich via das Geburtshaus angefragt, zwei Tage mit dieser Gruppe zu arbeiten. Als Themenwünsche gaben sie an: sexuelle Gesundheit, Verhütungsmethoden und sexuell übertragbare Krankheiten. Nun ja, nicht gerade meine Steckenpferde, diese Themen. Aber meine Neugier siegte und ich sagte zu. Zum Glück hatte ich etwas Zeit, um mich auf diese Tage vorzubereiten.
Intensivkurs
10 „promotores de salud“ und traditionelle Hebammen erwarteten mich, als ich in ihrer Klinik eintraf. Die einen hatten einen langen Weg auf sich genommen, um diese Weiterbildung zu besuchen. Das Spektrum war ziemlich breit. Sowohl was ihr Alter als auch ihr Wissen betraf. Einige von ihnen arbeiten bereits als „promotores“, andere tasten sich erst an diese Tätigkeit heran. Ich hatte einigen Respekt vor diesen Kurstagen. Bei anderen Gelegenheiten hatte ich schon ein bisschen erahnen können, dass didaktische Ideen aus unserem Kulturkreis manchmal nicht den gewünschten Erfolg zeigen. Der von ihnen vorgegebene Stundenplan war ziemlich intensiv, täglich arbeiteten wir über 8 Stunden. Einer der „promotores de salud“ übersetzte alles auf Tzeltal, eine der hiesigen Mayasprachen.
Meine Eindrücke
Gefreut habe ich mich über ihren Wissensdurst. Sie hakten hartnäckig nach, bis sie etwas verstanden hatten. Schön war auch, dass wir über alle kulturellen, sprachlichen und sonstigen Hürden der Sozialisation hinweg gemeinsam lernen und lachen konnten. Erstaunt hat mich, dass sie für hiesige Verhältnisse sehr offen über Tabuthemen wie Sexualität sprachen. Und tief beeindruckt hat mich ihre Vision. Mit ihrer Dienstleistung wollen sie die Lebensqualität der Bevölkerung verbessern. Sie fördern Gesundheit und leisten eine wichtige Präventionsarbeit an Orten, wo die Menschen oft sich selbst überlassen sind. Für ihre Konsultationen verlangen sie kein Geld. Ab und zu erhalten sie ein Ei oder etwas Mais für ihre Arbeit. Oder ihre Patientin kocht als Gegenleistung für die ganze Gruppe wie es an unseren zwei Kurstagen der Fall war.
Einfaches Leben
Für mich waren diese Tage auch ein vager Einblick in die Lebensweise der Landbevölkerung. Die Menschen leben von dem, was sie selbst anpflanzen und ernten, der Standard ist sehr einfach. Sie wohnen in Bretterverschlägen oder auch in gemauerten Häuschen. Scheint die Sonne nicht, wird es an den einen Orten sehr kalt. Ich war froh um meinen Daunenschlafsack sowie um die Daunenjacke. Dass sie all diese „Gadgets“ nicht haben, versteht sich von selbst. Die Frauen tragen meist einfache Plastiksandalen, viele Kinder sind barfuss unterwegs. Wird es kalt, schlagen sich die Frauen ihren „chal“ (grosses Tuch, in welchem sie auch ihre Kinder tragen) um den Körper – mehr haben sie nicht. Gekocht wird auf dem Feuer, draussen oder in einem Bretterverschlag neben dem Wohnhaus. Ein Badezimmer gibt es nicht. Wenn überhaupt, dann putzt man sich die Zähne draussen und geduscht wird nach der Methode Wasserkübel über den Kopf giessen. Das Wasser werde dafür nicht extra erwärmt, erzählten mir die Kinder.
Ich dachte mir, dass in der Schweiz inzwischen wahrscheinlich jede Alphütte luxuriöser ausgestattet ist als viele Häuser der Landbevölkerung in Chiapas.