Heiliges Zuckerwasser

Ein Essay über den Wasserreichtum in Chiapas und weshalb trotzdem alle Coca-Cola trinken.

Beginnen wir beim Regen. Er ist ein allgegenwärtiges Thema in San Cristóbal. Bei der Begrüssung fragt man: „¿te mojaste?“ – „Bist du nass geworden?“. Der Regen ist schwierig vorauszusehen. Meist kommt er erst nachmittags, aber er kommt bestimmt.


In Mexiko herrscht kein Wassermangel. Probleme entstehen erst bei dessen Verteilung. Im Durchschnitt hätte jede Person in Mexiko 153 Liter Wasser pro Tag zur Verfügung.

In der Realität werden die Flüsse in die Städte und Monokulturen geleitet, weshalb viele Landbewohner auf dem Trockenen sitzen. An zahlreichen Orten sinkt Jahr für Jahr der Grundwasserspiegel, die Wasserverschmutzung nimmt zu, jahrtausendealte Wasserreserven werden aufgebraucht und die Wüstenbildung schreitet voran.

Wie unter der Tropendusche

Ein ganz normaler Nachmittag
Ein ganz normaler Nachmittag

Der südlichste Bundesstaat Mexikos steht diesbezüglich besser da. Chiapas ist unglaublich reich am flüssigen Rohstoff – ähnlich wie die wasserverwöhnte Schweiz. Die Wolken vom Golf von Mexiko stauen sich täglich an der Bergkette und werfen ihre feuchte Fracht über das ganze Gebiet ab. Die vielen Wälder speichern das kostbare Gut und bringen sauberes Grund- und Oberflächenwasser hervor.

Wenn der Regen kommt, dann meist plötzlich und heftig wie aus Kübeln. Gummistiefel gehören zur notwendigen Ausrüstung, Strassen werden innert Kürze zu Bächen. Blöd nur, wenn diese so tief sind, dass das Wasser auch die Gummistiefel überschwemmt. Dann läuft man besser gleich barfuss weiter.

Wasserschöpfen mit der grossen Kelle

Chiapas gilt nicht umsonst als das Wasserschloss Mexikos. 30% der Wasserreserven Mexikos befinden sich in diesem Bundesstaat. Das blaue Gold zieht Getränkefirmen aus aller Welt an, allen voran Coca-Cola. Diese schöpfen im wortwörtlichen Sinne den Reichtum ab. Ein kleines Hindernis würde für die Firmen bestehen: eigentlich gehört das Wasser allen und ist laut der mexikanischen Verfassung ein öffentliches Gut. Doch mit genügend Anreizen lässt sich die Privatisierung überall vorantreiben. Vincente Fox, der ehemalige Coca-Cola Manager und mexikanische Präsident von 2000-2006, hat dafür gesorgt, dass dies möglich wird.

Bevor wir in Verschwörungstheorien schlittern, zurück zum Regen. Hat man ihn einige Male zu spüren bekommen, dann erstaunt einem auch nicht mehr, dass Leute wegen ihm zu Hause bleiben und Termine nicht wahrnehmen. Eigentlich hat es auch etwas Schönes – dass es noch etwas gibt, das alles stillstehen lässt und wogegen es sich gar nicht erst zu wehren lohnt.

Disfruta Coca-Cola (Quelle: www.periodismohumano.com)
Disfruta Coca-Cola (Quelle: www.periodismohumano.com)

Hier in San Cristóbal operiert Coca-Cola im grünen Bereich. Die Firma fördert Wasser aus den Hügeln des Vulkans Huitepec. Sie hat die Rechte an Förderbrunnen der Gemeinden und Landbewohner erworben, indem sie ganze Landstriche aufgekauft hat. Die Hügel sind eigentlich ein Naturschutzgebiet, verwaltet von der lokalen Umweltschutzorganisation “Pronatura”, die wiederum von Coca-Cola mitfinanziert wird. Für Tausend Liter Wasser bezahlt die Firma dem Staat 8 Pesos, ca. 50 Rappen. Ein Zigfaches weniger als diejenigen, die einen Wasseranschluss besitzen. All das ist vertraglich geregelt.

Nochmals kurz zur Regenfront: Ganz so wehrlos hat sich die Bevölkerung dem Regen doch nicht ergeben. Die Stadt liegt in einem Kessel ohne richtigen Abfluss. Der Regen führte in den tiefer gelegenen Vierteln der Stadt regelmässig zu Überschwemmungen. Seit 1976 gibt es jedoch einen Wassertunnel, der die Stadt vor dem Überlaufen bewahrt.

Mit Rülpsen Dämonen vertreiben

Coca-Cola hat es geschafft, die Herzen der hiesigen Gemeinderäte und Umweltorganisationen zu gewinnen. Die Coca-Cola-Stiftung hilft beim Bau von Schulen und Internaten. Bibliotheken und Sportplätze werden rot-weiss neu gestrichen und restauriert. Die Stiftung hilft auch bei der Säuberung des eindrücklichen Cañon del Sumidero in der Nähe der Hauptstadt Tuxla – auch bekannt als Cañon de la Basura (Abfallcanyon). Dieser wird mit vereinten Kräften von tausenden Petflaschen befreit. Die Erhabenheit – zumindest dieses Naturschauplatzes – wird öffentlichkeitswirksam wieder hergestellt. Coca-Cola will eine verantwortungsvolle Mitbürgerin sein. Corporate Social Responsability (CSR) heisst das Zauberwort der Stunde. Blöd nur, dass der Zufluss an neuen Plastikflaschen nicht abnimmt.

Maya-Ritual in Chamula (Quelle: www.periodismohumano.com)
Maya-Ritual in Chamula (Quelle: www.periodismohumano.com)

Du heiliges Zuckerwasser. In Chamula, dem kulturellen Zentrum der Tzotzil-Mayas in der Nähe von San Cristóbal, beschwören Schamane täglich schädliche Geister im Körper von Kranken durch Rülpsen. Traditionell wird dafür ein selbstgebrannter Zuckerrohr-Schnaps namens „Posh“ verwendet. In jüngerer Zeit konsumieren die Schamanen jedoch vermehrt Coca-Cola oder andere kohlensäurehaltigen Getränke, um besonders heilende Rülpser zu erzeugen. Auch traditionelle Maya-Hebammen verwenden das Zuckerwasser um böse Geister zu besänftigen und von der Gebärenden abzuwenden. Die Dämonen scheinen dem Zuckersirup auch nicht abgeneigt.

Enjoy!… Open Happiness!

Die Charmeoffensive von Coca-Cola zeigt Wirkung. Die Bevölkerung dankt es, indem sie das in Zuckerbrühe verwandelte Wasser zum tausendfachen Preis wieder zurückkauft. Die Produkte von Coca-Cola sind besonders im ländlichen Raum äusserst beliebt. Die Mexikaner trinken pro Kopf weltweit am meisten Coca-Cola – 0,4 Liter pro Tag. Da wundert einen auch die hohe Rate an Diabetes und Übergewicht hierzulande nicht mehr so stark. In vielen Gebieten ist Coca-Cola einfacher und günstiger zu kaufen als Trinkwasser. Laut Umfragen gibt eine Person mit einem Mindesteinkommen von täglich 3 Franken gut 30% ihres Einkommens für Trinkbares aus, 17,5% davon für Produkte von Coca-Cola.

Auch wir profitieren von Chiapas’ Wasserreichtum. Die Besitzer unseres kleinen Häuschens sammeln Regenwasser und decken damit fast den ganzen Jahresbedarf der 5 Haushalte ab. Eine Filteranlage säubert das Regenwasser siebenfach und so kommen wir in den Genuss von Trinkwasser ab Hahn direkt in unserem Hof. Ein Luxus, der viel dazu beigetragen hat, dass wir bis Januar in unserem Bungalow wohnen bleiben.

Der Krug geht zum Brunnen, bis…

Anstelle des Staates stellen hier private Firmen die Versorgung mit Trinkwasser sicher, obwohl der Rohstoff Wasser im Überfluss vorhanden wäre. Die Bevölkerung bezahlt für Trinkwasser 20 Mal mehr als Deutschland und 100 Mal mehr als in Canada. Die Mexikaner kaufen weltweit fast am meisten Wasser in Flaschen – gleich hinter den Wüstenbewohnern aus den Vereinigten Arabischen Emiraten. Ein florierender Markt für Coca-Cola, Pepsi, Danone und natürlich auch Nestlé. Kritiker nennen diese Entwicklung „Coca-Kolonialisierung“ und befürchten, dass das Geschäft mit den Ärmsten früher oder später zu Konflikten führt. Aber ein Schelm, wer Böses denkt. Der Wasser-Kreislauf scheint zu funktionieren und alle lieben doch das braune Gesöff.

Quellen:
María Verza: The “Coca-Colization” of Mexico, the Spark of Obesity. 2013.

Silvia Vázquez Díaz: Agua y territorios indígenas en Chiapas, Mexico. 2007.

Madlen Schering: Genügend Wasser für alle? Lateinamerika Nachrichten. Nr. 370 – April 2005.

Chiapas.ch: Die Sache ist komplizierter als man denkt: ‘Starbucks’ und ‘Conservation International’. 2004.

Auch für diesen Touristen gab es wieder nur Coca-Cola. Hoffentlich sind die Cips direkt ab Hof.
Auch für diesen Touristen gab es wieder nur Coca-Cola. Hoffentlich sind wenigstens die Chips direkt ab Hof.

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